Zwischen Kreativität und Kontrolle

Die junge Megacity, die unsere Welt verändert: Storymaker im Gespräch mit Frank Sieren über sein Buch „Shenzhen – Zukunft made in China“
Veröffentlicht:
19.8.2021
Aktualisiert:
11.10.2023

Anfang Juli ging die Storymaker Webinarreihe „Expert Bites“ in die Finalrunde. Zu Gast war Bestseller-Autor und China-Experte Frank Sieren, der als Journalist bald 30 Jahre in China lebt und alle Entwicklungen im Land der Mitte hautnah miterlebt. Frank Sieren berichete über die chinesische Supermetropole Shenzhen, deren Innovationskraft bereits jetzt Wellen nach Amerika und Europa schlägt und die daher oftmals als das nächste Silicon Valley beschrieben wird.

Wir haben für Sie eine Auswahl von Fragen an Frank Sieren aus der Live-Fragerunde gesammelt – seine Antworten darauf lesen Sie hier.

Bestseller-Autor und China-Experte Frank Sieren

Wie begegnen Sie Stimmen, die behaupten, alle Entwicklungen und Innovationen in China gleichen einer großen Blase, die bald platzen wird? 

Frank Sieren: Ganz grundsätzlich würde ich antworten, dass es eine Tugend ist, den Wettbewerber nicht zu unterschätzen. Diese Äußerung kommt wahrscheinlich aus der Unlust heraus, sich mit China und seinen Entwicklungen zu beschäftigen – aus meiner Sicht ein Fehler. Sicher sind nicht alle Entwicklungen nachhaltig und auch nicht alle sinnvoll, es entwickelt sich auch manchmal etwas in eine Sackgasse. Aber zu sagen alles, was aus China kommt, sei nicht nachhaltig und ist eine Blase, die bald platzt, halte ich nicht für überzeugend. Man sieht es an Beispielen wie der Immobilienblase, die nicht geplatzt ist, genauso geht es der Finanzmarktblase. Schaut man sich genauer an, was eine Blase überhaupt ist, dann beschreibt das eine Entwicklung, die entweder zu teuer wird oder im Überfluss hergestellt wird, weil es niemand mehr braucht. Das große Prinzip der Chinesen heißt jedoch "Trial and Error", also der Wille und die Neugier, Dinge einfach mal auszuprobieren. 

Wie kommt es, dass das Land so schnell von der Innovation zum Massenprodukt übergeht?

FS: Zunächst einmal hat China einen besonderen und einmaligen Vorteil: Innovation, Produktion und Finance sitzen an einem Ort, Finance eben in Hongkong. Noch ein Grund ist die sehr junge und neugierige Bevölkerung und zahlreiche Entwickler – die jungen gehen dabei häufig nach Shenzhen. Unterstützt werden diese aus einem innovationsgetriebenen Staat, der sprichwörtlich "aus Schaden klug geworden" ist. Das Ganze trifft auf der Nachfragerseite auf eine sehr technologieaffine und interessierte Bevölkerung, mit einem Nachholbedarf an frischen Technologien und Gadgets. Das kann man so nicht vorplanen und deswegen kann man dabei auch nicht von einem Modell der chinesischen Regierung sprechen, das wir in Europa einfach adaptieren können. Wir können von einzelnen Bereichen allerdings lernen: Zum Beispiel die Initiative des Staates und die Schnelligkeit in der Umsetzung neuer Innovationen. 

Shenzhen ist das Silicon Valley Chinas – und zieht einige ausländische Fachkräfte an.

Inwiefern ist Shenzhen bereits Anziehungspunkt für westliche und andere ausländische Fachkräfte?

FS: Ganz eindeutig, ja. Die jungen Menschen aus dem Silicon Valley wollen dorthin. Aus dem einfachen Grund, dass sie in der Hälfte der Zeit, die sie anderswo bräuchten, den Exit schaffen – also ihr Unternehmen für viel Geld verkaufen können. Allerdings muss man auch sagen, dass Shenzhen noch nicht so international bekannt ist, wie z.B. die amerikanische Westküste – das Silicon Yalley, beispielsweise. Da ist in Shenzhen noch Nachholbedarf, was aber dazu führen wird, dass die Stadt noch innovativer werden wird. Nicht zuletzt lockt der chinesische Staat auch ausländische Experten an – im sozialen Wohnungsbau beispielsweise. Wenn China einen ausländischen Experten unterbringen möchte, dann wird auch dafür gesorgt werden, dass dieser eine preiswerte Wohnung bekommen wird. Sie werden sich übrigens darum kümmern, dass man weniger Steuern zahlen muss usw. 

Merkt man in Shenzhen im digitalen Alltag, dass sich das Bewusstsein für Datenschutz ändert?

FS: Ja, das merkt man. Zwar nicht so schnell, wie wir das in Deutschland gerne sehen würden. Wir neigen zu der Vorstellung, dass die Chinesen (die ja noch nachholen) sofort mit dem Ergebnis auftrumpfen müssen, was wir aktuell haben – und vergessen dabei, dass wir auch einige Zeit für diese Entwicklung gebraucht haben. Momentan ist den Chinesen die Sicherheit vor Betrügern und Kriminalität im Internet wichtiger als der Datenschutz. Shenzhen ist deshalb die Stadt mit den meisten Überwachungskameras der Welt. London befindet sich als einzige nicht-chinesische Stadt unter den Top 10 Ländern mit der höchsten Dichte an Überwachungskameras. Das zeigt, dass auch die Engländer langsam eine andere Balance zwischen Datensicherheit und Sicherheit durch Überwachung fahren. In Berlin wäre das politisch nicht durchsetzbar. Dennoch ist in China das neue Datenschutzgesetz weitgehend vom Europäischen Datenschutzgesetz übernommen – auch wenn die Regularien bislang vorrangig Unternehmen betreffen und der Staat selbst sich noch etwas rauszieht. Der Druck ist aber hoch genug gewesen für den chinesischen Staat in irgendeiner Form zu reagieren. 

Aus einigen aktuellen Studien geht eine abfallende Produktivität in China hervor – wie geht diese mit dem derzeitigen Innovationsstandort einher?

FS: Das ist immer die Frage, wie das gemessen wird. Die Produktivität misst normalerweise über den Faktor Produktionsproduktivität, was keine einfache Sache ist. Ob diese gefallen ist, hängt wiederrum von der Rechnung pro Kopf ab. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, dass in den mir bekannten Fabriken zunehmend weniger Menschen arbeiten – dafür mehr Maschinen. Somit müsste sich die Produktivität eigentlich erhöhen. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum die Produktivität sinken sollte – da gilt es immer einen genauen Blick auf die Studie und ihre Erhebungsmethode zu werfen. 

In Chinas Fabriken arbeiten zunehmend weniger menschliche Arbeitskräfte als maschinelle.

Wie steht es um die Dialogfähigkeit zwischen Deutschland und China?

FS: Naja, wir müssen halt einfach miteinander reden. Und dazu gehört, einzusehen, dass wir ohne einander nicht auskommen. Leider sind wir da in Deutschland meines Erachtens noch etwas weiter davon entfernt. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir die großen Herausforderungen in der Welt nur gemeinsam lösen können, z.B. den Klimawandel oder andere technologische Herausforderungen. Ich glaube, wenn wir das alle verstanden haben, dann ist die Dialogfähigkeit keine Frage mehr, denn wir reden dann ja logischerweise miteinander darüber, wie wir die Welt verbessern können. Dazu muss es definitiv eine Entwicklung in der Politik geben. Wenn die Politik regelmäßig auf die Angst vor China einsteigt und darauf reagiert, dann schaden wir uns am Ende nur selbst. Wir haben schon einmal ähnliches geschafft: Die deutsch-französische Freundschaft nach dem zweiten Weltkrieg – und das innerhalb nur einer Generation. Wir müssen vor allem unseren Kindern den Perspektivwechsel beibringen, damit sie verstehen, dass andere die Welt anders betrachten, als man es selbst tut oder beigebracht bekommt. Das ist erst einmal nicht besser oder schlechter – sondern einfach anders. In Bezug auf China: Weil sie eine andere Geschichte haben, weil sie mehr Menschen sind, weil sie in einer anderen Weltregion leben usw.. Das ist für mich der entscheidende Punkt dabei, wenn man das deutsch-chinesische Verhältnis verbessern möchte. 

"Wenn wir erkennen, dass wir ohne einander nicht können, steht der Dialog außer Frage", so Sieren.

Inwiefern ist die auslaufende Produktionsstätten-Verlagerung nach Afrika und Vietnam ein Risiko für China?

FS: Ich glaube, das ist gar kein Risiko für China, denn es wird ja nicht die gesamte Produktion, sondern lediglich die personalintensive Produktion ausgelagert. Die Hightech-Produktion ist nach wie vor vor Ort. Die Textilproduktion wandert eben in den Westen Chinas, Vietnam oder nach Laos und Thailand. Dadurch, dass es nun wieder eine Freihandelszone gibt, kann man das auch zollfrei wieder reimportieren. Die große Frage dabei ist, was mit den Arbeitern passiert. Die Strategie der Regierung ist hier, diese als Servicekräfte einzusetzen – z.B. als Händler für Alibaba. Wie das funktioniert, werden wir künftig sehen. 

Welche Technologien und Entwicklungen werden in China derzeit stärker diskutiert und hinterfragt?

FS: Der neueste Schrei ist momentan "fleischloses Fleisch". Der Pro-Kopf-Konsum von Fleisch ist noch relativ gering in China. Es ist klimatechnisch und für die Welt nicht möglich, dass die Chinesen genauso viel Fleisch pro Kopf essen, wie die Amerikaner. Heißt, hier herrscht ein großer politischer Druck zum Handeln für die chinesische Regierung. Daher hofft die "fleischloses Fleisch"-Industrie wie damals bei den E-Batterien darauf, dass die Regierung eingreift. Zum Beispiel durch die Regulierung der Essenspläne in staatlichen Kantinen. Momentan formieren sich dazu jedenfalls schon die entsprechenden Venture Capital Firmen – auch aus dem Ausland.

 

Es bleibt also spannend, in welche Richtung sich China, insbesondere Shenzhen, künftig entwickeln wird. Wir bedanken uns herzlich bei Frank Sieren für die spannenden Einblicke. Wer mehr wissen möchte, dem können wir Frank Sierens Buch "Shenzhen – Zukunft Made in China" ans Herz legen – oder Sie sprechen uns einfach zu Ihren individuellen Fragen an. Wir helfen Ihnen gerne.

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Theresa Stewart

Director China
t.stewart@storymaker.de